Warum wir uns Lebensmittelmüll nicht mehr leisten können und wie es auch anders geht

Rettergut engagiert sich gegen Lebensmittelmüll
28 % der produzierten Lebensmittel schaffen es laut Statistik erst gar nicht in den Handel. Laut dem Dokumentarfilm „Taste the Waste“ sollen es gar 50 % der in Deutschland angebauten Kartoffeln sein. Initiativen wie Rettergut wollen daran etwas ändern. Foto: Pixabay.com/Couleur

Wir werfen einfach zu viele Lebensmittel weg, das ist eine traurige Tatsache. Doch nicht nur im Handel, Zuhause oder in der Gastronomie landet viel zu viel in der Tonne. Das Dilemma fängt bereits auf dem Acker oder in der Gemüsesortierung an. Da hat das junge Unternehmen Rettergut was dagegen. Und rettet sehr erfolgreich

Krumm, unförmig, kein schönes Äußeres, zu groß oder zu klein. Wenn es die Natur mal mit Gemüse nicht ganz so gut meint und es jenseits einer unsinnigen Norm liegt, dann war es das. Es bleibt direkt auf dem Acker liegen, wird spätestens in der sogenannten Nachernte aussortiert und bei der industriellen Verarbeitung fliegt auch jede Menge an Lebensmitteln auf den Müll. Was Hobbygärtnern nie in den Sinn kommen würde ist in der industriellen Fertigung von Lebensmitteln Alltag.

Insgesamt 28 Prozent der produzierten Lebensmittel sollen es sein, die noch bevor sie überhaupt in den Handel kommen als unliebsamer, den Normen und den Erwartungen (von wem jetzt auch immer) als Abfall enden. Geht es nach Valentin Thurns Film „Taste the Waste“ könnte es sogar noch weitaus schlimmer sein, denn so der Dokumentarfilmer werden beispielsweise 50 Prozent der Kartoffeln auf einem Acker aufgrund ihrer Norm“verstöße“ gleich wieder untergepflügt.

Jedenfalls, offiziellen Angaben zufolge, sind es 18 Millionen Tonnen Lebensmittel, die Jahr für Jahr in Deutschland im Müll landen. Weltweit sind es unvorstellbare 1,3 Milliarden Tonnen, was etwa ein Drittel aller auf der Erde produzierten Lebensmittel ausmacht. In einem Newsletter der Initiative Food Tank habe ich gelesen, dass diese Menge an Lebensmitteln die Millionen unterernährter Menschen auf diesem Planeten sattmachen würde. Ein Drama.

Der WWF USA rechnet aber auch noch einmal anders. So ist dessen Angaben zufolge der Lebensmittelmüll für elf Prozent der Treibhausgasemissionen der gesamten Nahrungsmittelproduktion verantwortlich, denn dieser Müll, der in vielen Ländern einfach auf der Deponie landet, stößt Unmengen des Klimakillers Methan aus. Und die Initiative Food Tank hat errechnet: Wäre Lebensmittelmüll ein Staat, dann wäre er der drittgrößte Treibhausgasemittent der Welt. In Deutschland ist der Lebensmittelmüll für vier Prozent der gesamten Treihausgasemissionen verantwortlich

Dabei darf man nicht vergessen, dass nicht nur jede Menge Essbare sinnlos verschwendet wird, sondern auch noch jede Menge Wasser oder Energie (Treibhäuser, aufwändig hergestellter Kunstdünger, usw.).

Dass das auch anders geht, das zeigen ein paar vergleichsweise junge Initiativen wie das Start-up Rettergut.

Start-up Rettergut hat die nachhaltige Lösung

Rettergut produziert Suppen, Pesto oder Brotaufstriche aus Lebensmittel, die zu Müll geworden wären
Nachhaltige und leckere Produkte (ich habe sie getestet) aus Lebensmittel, die zu Müll geworden wären. Foto: © Rettergut

Es gibt heute zahlreiche Initiativen und Start-ups, die sich diesem Missstand annehmen. So auch die Zwillingsbrüder Philipp und Stefan Prechtner. Bereits 2014 gründeten sie das Start-up Dörrwerk mit dem sie gerettetes Obst und Gemüse trocknen und als Snacks verkaufen.

Doch es bleibt einfach viel zu viel Gemüse weiterhin auf der Strecke. Daher gründeten sie ein zweites Start-up mit dem Namen Rettergut, welches verschmähtes Gemüse zu allerlei Leckereien verarbeitet. Zahlreiche Produkte wie Suppen, Pestos und Aufstriche im Sortiment sind bio und vegan. Der Hintergrund: Gerade Bioprodukte haben es nicht so mit Normen, da sie nicht aus optimiertem Saatgut, mit Kunstdünger und Pestiziden in ihre genormten Schranken gewiesen werden. Zum Nachteil aus Sicht des Handels, daher fliegt hier viel auf den Kompost oder wird untergezackert. So traurig das ist.

  • Ein Beispiel: Vor einigen Jahren erfuhr eine engagierte Truppe von einem Bauern, der um Hilfe bat. Der Einkäufer einer Bio-Supermarktkette erklärte einem bäuerlichen Familienbetrieb, dass seine Hokkaido-Kürbisse dieses Jahr zu klein sind. „So etwas will der Kunde nicht.“ Sagts und lässt den ratlosen Bauern stehen. Über einen Aufruf via Soziale Medien fanden sich sehr schnell Interessenten für die geschmacklich hervorragenden etwa 1,5 Tonnen Kürbisse.

Ergänzt wird die Produktpalette durch „richtigen“ Abfall. Einerseits aus der Nudelproduktion, andererseits aus der Schokoladenherstellung. Damit beispielsweise Spaghetti immer die gleiche Länge haben, werden sie beschnitten und die Reste landen sonst im Müll. Hier hat Rettergut eine Lösung gefunden und wahlweise mit Mais, Linsen oder Hartweizen (nicht gerettet) entstehen aus dem Lebensmittelabfall besondere Fusilli-Nudeln.

Was kaum jemand weiß, fällt bei der Schokoladenproduktion technisch bedingt stets Abfall an. Da wir schließlich nur reine Zartbitter-, Vollmilch- oder weiße Schokolade möchten gibt es immer dann Lebensmittelabfall, wenn die Produktionsstraße von einer auf die andere Sorte umgestellt wird. Schließlich will keiner den Mix zweier Sorten haben. Oder doch? Ja, Rettergut und seine Kunden, denn das Unternehmen verkauft nun einfach Mixschokolade als Riegel oder Tafeln.

100 Tonnen in einem Jahr

Vom 22. – 29. September 2020 war die Aktionswoche „Deutschland rettet Lebensmittel“ von der ich medial allerdings so gar nichts mitbekommen habe. Jedenfalls flatterte hierzu die Meldung von Rettergut herein. Und die begeisterte, denn annähernd 100 Tonnen, oder 100.000 Kilo, Lebensmittel mal so einfach vor dem Unterzackern, dem Müll oder der Biogasanlage in knapp einem Jahr zu retten ist beachtenswert. Noch dazu als hervorragende Endprodukte, vornehmlich in Bioqualität.

GemüseAckerdemie: Aus Gewinn Bildung unterstützt

Hier ist ein Beispiel einer AckersKita in Potsdam. Die Kinder lernen mit Begeisterung, wie Gemüse wächst. Foto: © Katharina Kühnel

Einen Teil der Erlöse investiert Rettergut in nachhaltige Bildung von Kindern. Denn ein Teil des Rettergut-Umsatzes fließt in die GemüseAckerdemie. Das vielfach ausgezeichnete Bildungsprogramm des gemeinnützigen Vereins Ackerdemia e. V. fördert bei Kindern und Jugendlichen die Wertschätzung von Lebensmitteln, indem die Kids ihr eigenes Gemüse säen, pflegen, ernten und essen. Das vielfältige Angebot richtet sich an Kindergärten wie Schulen. So erhalten die Kinder ein anderes Verhältnis zu den Lebensmitteln, lernen wie sie wachsen und was für eine Arbeit dahintersteckt. Die Lehrer, die das Programm leiten, lernen sicher auch so manches dazu.

Im Angebot, an dem alle Kindergärten und Schulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz teilnehmen können, wird mit Hilfe von Mentoren und regelmäßigen Aufgabenkatalogen in der Praxis gelernt, wie der Gemüseanbau funktioniert. Der Ackerdemia e. V. hat heute schon mehrere Hundert Schulen („AckerSchule“) und Kitas („AckerKitas“) als Teilnehmer. An Schulen kann das Gärtnern in den Unterricht eingebaut sein oder als AG umgesetzt werden. Institutionen, die kein Grundstück für den Gemüseanbau zur Verfügung haben, können als „GemüseKlasse“ mit Indoor-Hochbeeten mitmachen.

Unter dem Motto „Für eine Generation, die weiß was sie isst!“ ist die GemüseAckerdemie richtig erfolgreich. Denn in Wirkungsuntersuchungen haben die Kids viel mehr Respekt vor Lebensmitteln, essen viel mehr, auch vorher abgelehntes Gemüse und fordern vielfach ihre Eltern auf, Gemüse selbst anzubauen.

Mehr Informationen und Anmeldung zum Programm auf der Seite der GemüseAckerdemie.

Zwei Fragen an…

Philipp Prechtner, Geschäftsführer von Rettergut.

Wie findet man die Lebensmittel und wo? Ist das nicht ein logistische Mammutaufgabe?

„Oh ja, das ist eine Mammutaufgabe, aber eben auch einer der wichtigsten und spannendsten Bereiche unserer Arbeit. Wir kennen uns mittlerweile ja ganz gut aus in der Lebensmittelbranche und können manchmal schon ahnen, wo die Verschwendung passiert. Wir sprechen Landwirte, Sortierbetriebe oder Hersteller oft einfach direkt an und fragen danach. Dann überlegen wir gemeinsam, ob man die Verschwendung eindämmen kann und die Lebensmittel noch in andere sinnvolle Produkte weiterverarbeiten könnte. Auf der gesamten Strecke vom Acker bis zum Teller werden gute Lebensmittel aus den unterschiedlichsten Gründen aussortiert. Die Detektivarbeit lohnt sich aus unserer Sicht.“

Gibt es Produzenten, die mittlerweile schon auf Sie zukommen?

„Tatsächlich ist die Idee zur Mixschokolade, dem ersten Rettergut Produkt, entstanden, weil ein großer, deutscher Schokoladenproduzent uns angesprochen hat. Der war wiederum Teil eines Hochschulprojekts rund um Innovationen gegen Lebensmittelverschwendung. Daraus hat sich dann unser gemeinsames Konzept entwickelt: die Schokolade zwischen den Schokoladen retten und daraus leckere Tafeln und Riegel machen. Mittlerweile stehen wir im Austausch mit zahlreichen Akteuren der Lebensmittelbranche und brüten gemeinsam über Rettungsprojekte und passende Produkte.“

Gibt es wo zu kaufen?

Die nachhaltigen Produkte aus gerettetem Gemüse gibt es im Onlineshop von Dörrwerk zu kaufen. Dort sind auch deren Fruchtpapiere und Obst- und Gemüsechips erhältlich.

Im Handel haben Rossmann, dm, Hit, famila, Globus, Alnatura, Amazon und andere die Produkte gelistet.

Lebensmittelverschwendung, Lebensmittelmüll – es ist jeder gefordert

Mit gutem Beispiel als Unternehmen vorangehen, um Lebensmittelmüll zu vermeiden. Prima! Das kann allerdings auch jeder selbst beim Einkauf. Bei jedem Einkauf. Das wird manchmal allzu gerne vergessen. Denn das, was es dann doch in den Handel schafft, kann schnell auf dem Müll landen. Nämlich das, was der Konsument nicht kauft. Die Bananen, die schon deutlich reif sind und diese unschönen braunen Flecken bekommen, der Apfel, der beim Einräumen vielleicht doch mal eine Druckstelle bekam oder schlicht das die Augen schmeichelnde Überangebot, dass im Zeitraum X schlichtweg nicht verkauft werden kann. Auch dabei sind Klassiker wie Milchprodukte, die kein sonderlich langes Mindesthaltbarkeitsdatum mehr haben (kennt ihr auch die Leute, die immer ganz hinten schauen, ob da Packungen mit längerem MHD zu ergattern sind?). Sind wir doch mal ehrlich und gehen virtuell in die Obst- und Gemüseabteilung: Jede/r hat doch schon einen geschulten Scannerblick, der nach dem vermeintlich besten Produkt Ausschau hält und Milchprodukte oder andere abgepackte Frischwaren sind oftmals nur so viel wert, wie ihr MHD in möglichst ferner Zukunft liegt.

Das weiß auch der Handel. So werden laut Verbraucherzentrale dieser Lebensmittel etwa eine Woche vor dem „finalen“ Datum, das keine Verfalls- oder Ungenießbarkeitsangabe ist, bereits aussortiert und abgeschrieben. Fleisch vielleicht etwas später. Selten wird es rabattiert angeboten, weil es wohl für viele Konsumenten etwas unangenehm ist, mit dem großen orangefarbenen Aufkleber auf der Verpackung mit der Aufschrift „30 % Rabatt!“ an der Kasse zu stehen. Also landet Vieles im Müll. Und wo landet es? In meist abschließbaren Tonnen und wer sich daran bedienen möchte, Stichwort „containern“, macht sich auch noch nach ganz aktuellem Urteil strafbar. 

Lebensmittelmüll im Einzelhandel – wie beim Bauern oder der Sortieranlage Abfall, den wir nicht sehen. Vielleicht gar nicht sehen wollen. Aber er existiert und zwar in unvorstellbaren Mengen.

Wer bewusster einkauft, vermeidet ganz automatisch Müll, der nicht sein müsste. Schließlich werfen wir Selbstangebautes ja auch nicht weg. Schon gar nicht 50 Prozent der selbst angebauten Kartoffeln…

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